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Astrid Prühs

Kunst ist für alle da!

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Die Viecher waren schon immer meins

 

„Eigentlich gehört der Planet rein zahlenmäßig den Insekten – aber sie übernehmen ihn nicht. Das ist schon lustig. Denn eine einzige Mücke, Kakerlake oder Spinne kann einen Menschen schon total verrückt machen."

Die Kreaturen von Marina Sinjeokov Andriewsky könnten uns tatsächlich beunruhigen mit ihren fein behaarten Fühlern, den vielgelenken Beinchen, schimmernden Panzern und flirrenden Flügeln. Assoziationen an Milben und Käfer, Larven und Tausendfüßler rühren an archaische Urängste, obwohl oder gerade weil auch Menschliches in Gestus und Mimik spürbar ist. Manche Maden formen sich gar zu humanoiden Körpern, unter einigen Panzern entdecken wir darin eingewobene Frauenkörper. Wer jedoch genauer hinsieht wird erspüren, dass die filigranen Insekten-Misch-Wesen nichts Bedrohliches an sich haben. Sie greifen nicht an und kommen uns nicht zu nahe. Sie sind, wie und was sie sind: selbstverständlich, würdevoll und unnahbar.

 

Die aus Argentinien stammende Künstlerin ist stets dem Lebendigem in allem Geschaffenen auf der Spur, seien es die Winterlandschaften Sibiriens, deren karge Vegetation und endlose Weite sie in Wandobjekte übersetzt, die Fundstücke von Schrottplätzen und Stränden, die sich zu beseelten Skulpturen und Reliefen komponiert, die Pflanzen und Blumen Hispanolas und Mexikos, die als farbstarke Gouachen auf schwarzem Karton in den Raum hineinzuwachsen scheinen. Besonders aber haben es ihr die Insekten angetan: „Die Viecher waren schon immer irgendwie meins.“ Bereits in der Ikonenmalerei, welche sie nach ihrem Kunststudium ebenso erlernte wie das Goldschmieden, die Holz-, Stein- und Metallverarbeitung, waren es die Tierdarstellungen, die ihr Interesse weckten. „Die Heiligen werden nach mehr oder weniger festen Regeln dargestellt, aber in der wild bewegten See oder den rauen Bergen, den Vögeln und Fischen, Drachen und Dämonen erkennt man den Maler mit seinen individuellen Erlebnissen, Phantasien und Ängsten.“

 

Historische Ikonen inspirierten Marina Sinjeokov Andriewsky auch zum Einsatz von Gold in ihrer Serie mit großformatigen Käferwesen, die sich feenartig zart und dennoch hochpräsent von der naturfarbenen Leinwand abheben. Das Gold sei Licht, aber eben auch Metall, meint sie, „und nur Insekten können metallisch sein“. Neben Schwarz für die Konturen, Weiß für Hervorhebungen und perspektivische Akzente sowie dem Beige der Leinwand wird Gold zur vierten Farbe. Schwungvoll mäandernde Goldlinien verleihen Flügeln und Panzern dezente Struktur, Blattgold gibt einzelnen Segmenten Tiefe und Lebendigkeit. Je nach Licht, Umgebung und Tageszeit verändern sich diese Flächen in Helligkeit und Wirkung. Pathetische Überhöhung sei mit dem Edelmetall jedoch nicht angestrebt, sie habe es „eben so gesehen – es musste so sein“.

 

Den größten Geschöpfen der Künstlerin steht man in eigener Körpergröße gegenüber – eine unglaubliche Konfrontation! Wir erkennen menschliche Frauengestalten, die durch zahllose Bänder und Aufhängungen organisch mit stacheligem Rückenpanzer, Fühler besetzten Riesenkapseln oder schneckenartigem Ganzkörper-Rucksack verbunden sind. Diesen Verwebungen und Verwachsungen widmen sie ihre gesamte Aufmerksamkeit, wenn sie durch sie hindurch schreiten, sie zu unbekannten Strukturen verknüpfen oder in sie hineinkriechen. Mit ihrer kalkweißen Hautfarbe, dem Helm-artigen Kopfschmuck und den scharfen schwarzen Konturen könnten die Insekt-Maschine-Pflanze-Menschen japanischen Mangas entstiegen sein - ihre Schönheit weckt Verlangen und wirkt zugleich tief verstörend. Durch die lose Aufhängung der ungespannten Leinwand wird die zeitlupenartige Dynamik der Szene noch unterstützt: Wir sind Zeuge einer Verwandlung, einer Metamorphose, einer Ver- oder Entpuppung, wundersam und ungeheuerlich.

 

Die Wesen in den kleineren, auf Keilrahmen gespannten Arbeiten schweben dagegen gleichsam bewegungslos im Raum: Mit ihrem zum Gewand verwandeltem Hinterleib sind sie menschenartig aufgerichtet und kehren uns den Rücken zu. Den Kopf und Oberkörper aber wenden sie um, als suche ihr Blick den Betrachter hinter ihnen. Diese Haltung schafft eine unausweichliche Direktheit, die so manchem einen Schauer über den Rücken laufen lässt. Die Reflexe im Blattgold sowie die fein ausgeführten anatomischen Details unterstreichen die mystische Faszination.

 

In den zahlreichen Zeichnungen und Studien zum Thema Insekten erkennt man das Können der Bildhauerin mit ihrem sicheren Gefühl für Licht, Schatten und Linien. Da sind zum einen die schwungvoll ausgestalteten Lebensformen, mit denen man sich auf irritierende Weise verbunden fühlt, weil Haltung und Ausdruck an die eigene Gattung erinnern, ohne dass es sich um Menschen handelt. Zum anderen gibt es die feinst ausgearbeiteten Käfer, Fliegentiere und Tausendfüßler, die einem biologischen Lehrbuch entstiegen sein könnten, aber eben doch keine realen Insekten sind. An Samenkapseln und Spindeln erinnern dagegen die mit weißer Kreide auf farbigem Karton gebannten Spezies mit tentakelartigen Beinchen, Fühlern, Klauen und Zangen. Aufgrund der außergewöhnlichen Plastizität meint man das Knacken und Knistern ihrer Bewegungen hören zu können.

 

Eine ganz besondere Gruppe stellen die fleischigen Larven und Maden da: Ihre rotgemusterten undefinierten Ursprungskörper wurden durch Umwicklungen mit Bandagen und Bändern zu Gliedmaßen geformt. Wo nichts abgebunden wurde, quellen die Massen üppig und rosig hervor. Plötzlich posieren mumienartige Figuren mit Armen, Beinen und maskenartigen Köpfen in bizarrer Komik auf den Blättern. In diesen Arbeiten ist die Ambivalenz des Themas besonders deutlich spürbar: Man schwankt zwischen Faszination und Ekel hin und her, zwischen Schönheit und Schrecken, Abbild und Alptraum.

 

Eine sehr persönliche Spur führt zu der Serie von bearbeiteten Landkarten des Gebietes der sibirischen Stadt Omsk, wo die international tätige Künstlerin sechs Monate lang lebte und arbeitete. „Auf meinen Streifzügen durch die Landschaft bin ich sicher auch auf viele Insekten getreten und haben sie damit gewissermaßen genetisch verformt – vielleicht kommen solche Wesen dabei raus!“ Sie werden sichtbar durch Betonung einzelner Erdlinien sowie der Schraffur oder Freilassung daraus entstehender Flächen der insgesamt 45 Karten. “Ich gucke, hebe hervor, lasse zurücktreten und schaue, was passiert.“ Auch hier ist die Farbigkeit reduziert: Vorgegeben sind der Grundton des Papiers, Blau und Grün für Gewässer und Wälder sowie Gelb und Orange für Straßen und Wege, bearbeitet wird mit drei Grautönen in je drei Helligkeiten. „Es ist verrückt: Die daraus entstehenden Figuren wirken tatsächlich organisch. Mit der Zeit habe ich den Linien daher immer mehr vertrauen können.“

 

Eine Deutung dieser eindrucksvollen Überarbeitungen fiele leicht: Der Mensch verändert die Tierwelt und damit die Erde im Ganzen. Doch auch diese  Arbeiten  klagen nicht an und mahnen nicht, obwohl der Umgang des Menschen mit anderen Spezies genug Grund zur Empörung geben könnte. Die Künstlerin lässt ihre Kreaturen vielmehr Geschichten erzählen, die sich allein schon aus deren Anatomie entspinnen, die aber auch durch individuelle emotionale Rückkoppelungen des Zuschauers lebendig werden. Die Wesen umgibt ein Zauber, der sie ebenso stark wie verletzlich erscheinen lässt. Marina Sinjeokov Andriewsky verneigt sich damit vor dem genialen Vorbild der Natur: „Selbst die verrücktesten Formen sind in ihrer Funktion perfekt!“ Egal wie phantastisch ihre Bildschöpfungen auch erscheinen mögen, sie wirken immer plausibel. Gerade deshalb gehen uns diese Werke so unter die Haut.

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Astrid Prühs M.A.(Magister Atrium) Kunsthistorikerin

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